Der Betriebsprüfer muss grundsätzlich darlegen, dass die Buchhaltung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zumindest zum Teil inhaltlich unrichtig ist.
Hierzu muss der Prüfer im Rahmen der Überprüfung einzelner Geschäftsvorfälle die Unrichtigkeit des sachlichen Buchführungsergebnisses im konkreten Einzelfall darlegen oder er muss mit geeigneten Verprobungsmethoden den Nachweis führen, dass das Ergebnis der Buchführung als Gesamtwerk mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sachlich nicht richtig sein kann (Sächsisches FG, Urteil v. 26.10.2017 - 6 K 841/15).
Das Eintrittstor zur Darlegung der fehlenden Ordnungsmäßigkeit ist ein Verstoß gegen die Einzelaufzeichnungs- und Aufbewahrungspflicht gem. §§ 146 ff. AO . In der Praxis tritt dieser Begründungsansatz – zu Recht oder Unrecht – häufig auf. Der BFH hat die Einzelaufzeichnungspflicht für Einzelhandelsgeschäfte zwar vor mehr als 50 Jahren dahingehend eingeschränkt, dass die baren Betriebseinnahmen in der Regel nicht einzeln aufgezeichnet zu werden brauchen (BFH, Urteil v. 12.5.1966 - IV 472/60). Ausschlaggebend für den BFH war, dass es technisch, betriebswirtschaftlich und praktisch unmöglich sei, an die Aufzeichnung der einzelnen zahlreichen baren Kassenvorgänge in Einzelhandelsgeschäften gleiche Anforderungen wie bei anderen Handelsgeschäften zu stellen.
Ob ein Verstoß gegen formelle Vorschriften eine erhebliche Auswirkung für eine Schätzung hat, hängt von seiner materiellen Bedeutung ab. Das Gewicht des Fehlers ist also zu berücksichtigen. Nicht jeder Kassenfehler berechtigt zur Schätzung.
Beachten Sie bitte: Die technische Entwicklung hat diese Rechtsprechung jedoch überholt. Soweit der Steuerpflichtige ein modernes PC-Kassensystem nutzt, das zum einen sämtliche Kassenvorgänge einzeln und detailliert aufzeichnet und zum anderen auch eine langfristige Aufbewahrung (Speicherung) ermöglicht, kann er sich nicht mehr auf die Unzumutbarkeit der Aufzeichnungsverpflichtung berufen (BFH, Urteil v. 16.12.2014 - X R 29/13).
Der Steuerpflichtige ist in der Wahl seines Kassensystems allerdings frei. Bisher ist rechtlich ungeklärt, ob und welche abweichenden Regelungen für offene Ladenkassen gelten. Das BMF geht auch in diesem Fall von einer Einzelaufzeichnungspflicht aus (vgl. BMF-Schreiben v. 19.6.2018, BStBl 2018 I S. 706).
Besonders oft wurde die Einzelaufzeichnungspflicht bisher für die Apothekenbranche finanzgerichtlich thematisiert. Zuletzt stellte erneut das FG Münster fest, dass ein Apotheker, welcher ein modernes PC-Kassensystem nutzt und in diesem Zusammenhang auch Warenein- und ausgänge freiwillig aufzeichnet, zur Herausgabe dieser Daten an den Betriebsprüfer verpflichtet ist (FG Münster, Urteil v. 28.6.2018 - 6 K 1929/15 AO). Er kann sich in diesem Fall auch nicht (mehr) auf die Unzumutbarkeit einer Aufzeichnungsverpflichtung berufen. Die §§ 143 ff. AO enthalten nach Ansicht des FG Münster auch insbesondere keine – den § 238 HGB einschränkende – „Aufzeichnungssperren“.
Das FG Münster ist somit dem Argument mancher klagender Apotheker, dass aus der Regelung des § 144 AO im Umkehrschluss folge, dass nur Großhändler zur Einzelaufzeichnungspflicht steuerlich verpflichtet seien, entgegengetreten. Auch Einzelhändler seien zur Aufzeichnung ihrer einzelnen Geschäftsvorfälle einschließlich der Kassenvorgänge verpflichtet. Das FG Münster schließt sich insoweit den Ausführungen des BFH in seinen Urteilen v. 16.12.2014 - X R 42/13, BStBl 2015 II S. 519 , und X R 29/13 (NWB RAAAE-88364) an.
In der Literatur wird allerdings von einer neueren Ansicht bestritten, dass diese Einzelaufzeichnungspflicht auch für Einnahmenüberschussrechner (§ 4 Abs. 3 EStG) gelte (Rätke, BBK 21/2017 S. 1009, 1010). Bisher hat die Rechtsprechung nicht eingehend thematisiert, ob es bei Einnahmenüberschussrechnern gem. § 4 Abs. 3 EStG überhaupt Aufzeichnungspflichten für einzelne Bareinnahmen und -ausgaben gibt. In einem nur summarischen AdV-Verfahren hat der BFH die Aufzeichnungen eines Gastwirts zu den Einnahmen pro Gast (also pro Tisch) und die tägliche Summenbildung, ohne dass die einzelnen Rechnungen bzw. Bons aufbewahrt wurden, genügen lassen (BFH, Beschluss v. 12.7.2017 - X B 16/17).
Dieser BFH-Beschluss wird von Betriebsprüfern meist nicht angewandt und es wird von einer Einzelaufzeichnungspflicht ausgegangen. In der bisherigen Praxis wird der Regelung des § 22 UStG auch für den Bereich der Ertragsteuern Bedeutung beigemessen. Die weitere Rechtsprechung hierzu bleibt abzuwarten. Allerdings kann in laufenden Betriebsprüfungen – als Verhandlungsmasse – darauf hingewiesen werden, dass die bisherige Rechtsprechung die (vermeintlichen) Einzelaufzeichnungspflichten bei Einnahmenüberschussrechnern noch nicht dogmatisch überzeugend begründet hat. Hierdurch können möglicherweise extreme Schätzungen abgewehrt werden.
Die Steueranwälte von LHP empfehlen, Risiken bei der Kassenführung zu vermeiden. Hohe Schätzungen in Betriebsprüfungen sind inzwischen oft an der Tagesordnung. In einem solchen Fall sollte die Schätzung genau geprüft und hinterfragt werden. Oftmals ist eine Schätzung nach einer Besprechung mit dem Betriebsprüfer oder nach einem Einspruchsverfahren deutlich zu mindern.
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